Den Grundschulen droht die Totalreform

Die jüngsten Pläne zur Eingliederung behinderter Kinder an den Grundschulen werden nur von denjenigen bejubelt, die diese Pläne nicht umsetzen müssen. Schulleitungen, Lehrkräfte und Eltern lehnen die angestrebten Reformen grundlegend ab.

Wie verringert man die Zahl der Förderschüler?

An den saarländischen Gemeinschaftsschulen steigt die Zahl der Kinder mit sonderpädagogischem Förderbedarf. Es gibt inzwischen 5er-Klassen, in denen fast die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler nicht in der Lage ist, die Anforderungen der Klassenstufe zu erfüllen. Sie müssen anders unterrichtet und bewertet werden. Dabei helfen Lehrkräfte aus den Förderschulen. Sie unterstützen entweder direkt im normalen Unterricht oder erteilen mehreren Kindern eines Jahrgangs in einem gesonderten Raum eigenständigen Förderunterricht. Dafür müssen die Förderschülerinnen und Förderschüler allerdings ihre Klasse oder ihren Kurs zeitweilig verlassen.
Der größte Teil dieser Kinder, für die in der Klassenstufe 5 in einem aufwändigen Verfahren eine sonderpädagogische Förderung beantragt werden muss, hat die Grundschule absolviert, ohne dass dort ein solcher Förderbedarf festgestellt wurde. Die Kinder haben allenfalls eine „Ehrenrunde“ gedreht, also eine Klassenstufe wiederholt. Die weiterführenden Schulen kritisieren dieses Verfahren. Denn dass Sitzenbleiben kann die Defizite nicht ausgleichen und je später in angemessener Weise auf die Probleme der Kinder reagiert wird, desto schwieriger wird eine geeignete Hilfe.

Diese Praxis mag auf Bequemlichkeit oder Nachlässigkeit beruhen. Sie ist jedoch vorrangig eine Folge des deutschen Schulsystems, in dem die Kinder in der Regel schon mit 10 Jahren die Grundschule verlassen und auf andere Schulen verteilt werden. Die Grundschule ist bei uns gewissermaßen eine Art Durchgangsstation. Nach vier Jahren entfällt die Verantwortung für die Kinder. Schwerwiegende Defizite werden daher oft kaschiert und an den weiterführenden Schulen gibt es dann ein böses Erwachen. Deutschland steht wegen dieser Verfahrensweise seit Jahrzehnten international in der Kritik. Nirgendwo sonst erfolgt die Trennung zu einem so frühen Zeitpunkt. In fast allen europäischen Ländern bleiben die Kinder mindestens bis zur 8. Klasse zusammen. Erst danach kann an ein Gymnasium oder eine berufsbildende Schule gewechselt werden.

Offensichtlich soll im Saarland diese inflationäre (und teure) Entwicklung des Förderbedarfs jetzt gestoppt werden, indem man die Grundschulen stärker in die Pflicht nimmt. SPD-Fraktionschef Stefan Pauluhn rechtfertigte diese Pläne des Bildungsministeriums. Er sehe im saarländischen Bildungssystem den Grund für die hohe Zahl der Förderfälle, weshalb man bei den Grundschulen ansetzen müsse. Pauluhn schiebt damit den Schulen die Verantwortung zu, was bei Politikern immer sehr beliebt ist. Doch die entscheidenden Versäumnisse entstehen schon im frühkindlichen Bereich und sind in der Schule kaum noch auszugleichen. Auf diese Weise wird gerade den Eltern, die nicht in der Lage sind, ihren Kindern die notwendigen Anregungen zu bieten, vorgegaukelt, die Schule könne das alles wieder wettmachen.

Wer kümmert sich um die guten Schüler?

Natürlich muss die Grundschule versuchen, diesen Kindern gerecht zu werden. Das darf aber nicht so weit gehen, dass die Lehrkräfte den lernschwachen und oftmals dann auch verhaltensauffälligen Kindern die meiste Zeit und Aufmerksamkeit widmen, während die Interessierten, Begabten und Lernwilligen außen vor bleiben. Doch dieser Zustand ist inzwischen an vielen saarländischen Schulen traurige Realität. Den größten Teil der Unterrichtszeit kosten diejenigen, die nicht in der Lage sind, sich produktiv am Unterrichtsgeschehen zu beteiligen und sich daher durch Unterrichtsstörungen hervortun, um beachtet zu werden. Diese Schülerinnen und Schüler holen sich in der Schule die Aufmerksamkeit, die ihnen zu Hause fehlt, und die Lehrkräfte geraten immer stärker in der Rolle des Erziehers.

Eine gescheiterte Reform ist schlimmer als keine Reform

Angesichts dieser schwierigen Grundsituation wäre es fatal, die Grundschulen für die Förderschulen weiter zu öffnen, die Noten weitgehend abzuschaffen, das Sitzenbleiben zu erschweren und die Lehrkräfte zu jahrgangsübergreifendem Unterricht mit starker Binnendifferenzierung zu verpflichten. Sollten diese Pläne tatsächlich umgesetzt werden, entstünde für die Grundschullehrkräfte ein enormer Mehraufwand. Hinzu kämen umfangreiche Fortbildungsverpflichtungen, denn der Unterricht würde sich grundlegend ändern. Die Pflichtstundenzahl der Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer von 28,5 Wochenstunden (Gemeinschaftsschulen 27, Gymnasien 26) sowie die Klassenhöchstzahl von 29 Schülern müssten daher deutlich fallen.
Da im Saarland akuter Lehrermangel herrscht, haben viele Schulen zudem seit langem erhebliche Probleme, die Unterrichtsversorgung zu gewährleisten. Es stellt sich daher die Frage, wie das Ministerium den erhöhten Personalbedarf decken will, wenn diese Grundschulreform erst mal in Kraft getreten ist. Woher soll das Lehrpersonal kommen, wenn immer mehr junge und gut ausgebildete Lehrkräfte in die anderen Bundesländer abwandern, weil sie dort besser bezahlt werden. Reformen dieser Größenordnung wurden im Saarland noch nie bis zu Ende gedacht bzw. konsequent umgesetzt.  Die Skepsis gegenüber solchen Plänen ist dementsprechend groß. Das hat jedoch nichts mit einer konservativen Einstellung zu tun, sondern das ist einfach nur das Ergebnis einer nüchternen Bilanz saarländischer Bildungspolitik. Die neuen Grundschulpläne sind vielleicht gut gemeint, aber sie sind nicht durchführbar. Und eine Reform, die nicht umgesetzt werden kann und irgendwo in der Mitte stecken bleibt, ist viel schlimmer als der Status Quo. Wir sollten angesichts des Lehrermangels und der katastrophalen Finanzsituation des Landes lieber kleine Brötchen backen. Wir brauchen keine Luftschlösser. Und unsere Bildungspolitiker sollten vielleicht mal versuchen, diejenigen mit ins Boot zu nehmen, die am besten wissen, ob ihre Pläne umgesetzt werden können: das sind immer noch die Lehrkräfte.

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